Rückblicke und Visionen: Im Interview mit Klaus Roth
Klaus Roth lässt die letzten 30 Jahre Stiftung Evangelische Jugendhilfe Revue passieren. Als Vorstandsvorsitzender hat er die Stiftung von 1994 bis 2024 geleitet und sie maßgeblich mit zu dem entwickelt, was sie heute ist: Einer der größten Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Sachsen-Anhalt mit 1.500 Mitarbeitenden und einem vielfältigen Angebot an sozialen Dienstleistungen. Vor seinem Renteneintritt am 01. September spricht er mit uns im Interview darüber, was ihn auf seiner Reise in der Stiftung besonders bewegt hat und was er sich für seine Mitarbeitenden wünscht.
Lieber Herr Roth, Sie haben in den letzen 30 Jahren über 1.500 Mitarbeiter eingestellt, 7 Tochterunternehmen gegründet, Einrichtungen an 20 Standorten in ganz Sachsen-Anhalt eröffnet. Wie haben Sie das geschafft?
Ich glaube, es ist ganz wichtig zu betonen, dass man das nicht allein schafft. Es gab sehr viele Menschen, die daran mitgearbeitet haben – alle Bereiche und die Bereichsleiter.
Unser Grundprinzip war von Anfang an Freiheit und Verantwortung.
Ein weiteres Prinzip war es, die Dienstleistungspyramide umzudrehen. Wenn Sie in unsere Berichte schauen, werden Sie feststellen, dass die wichtigsten Leute die Mitarbeitenden und die Klient*innen sind. Die unwichtigsten sind Personen wie ich, der Vorstand.
Was war die größte Herausforderung?
Als wir den Betrieb übernommen haben, gab es einen Investitionsstau von 20 Millionen D-Mark.
Alle Gebäude und Gruppen waren in einem fürchterlichen Zustand. Wir hatten gerade einmal 300.000 D-Mark vom Land Sachsen-Anhalt zur Verfügung, um diese Situation zu bewältigen.
Was war eines Ihrer schönsten Erlebnisse?
Es gibt viele schöne Erlebnisse, wirklich sehr viele. Ein besonders schönes Erlebnis war ein europäisches Jugendcamp, das wir veranstaltet haben. Ich erinnere mich, dass wir eine großartige Party mit dem damaligen Ministerpräsidenten Reinhard Höppner gefeiert haben. Ein weiteres Highlight war unser Projekt „Kunst trifft Soziales“, bei dem zehn bildende Künstler eine Woche lang eingeladen wurden. Sie haben gemeinsam mit unseren Jugendlichen und Menschen aus Bernburg Kunstwerke geschaffen.
Was macht die Stiftung aus?
Menschlichkeit und gute Laune.
Wir haben stets versucht, dass sich die Menschen bei uns frei entfalten können. Dass sie ihre Potenziale ausschöpfen können und dass man fehlerfreundlich ist, sodass niemand von uns, dem Vorstand, gebremst wird.
Welche Herausforderungen sehen Sie für die Stiftung in der Zukunft?
Der Markt wird nicht einfacher. Fachkräftemangel ist eine riesige Herausforderung. Deshalb haben wir vor fünf Jahren eine Fachschule gegründet. Doch die Einstellung von Mitarbeitern und die Begeisterung für die Arbeit mit Kindern so zu fördern, dass diese Arbeit auch den Kindern zugutekommt, ist eine echte Herausforderung.
Und auf der anderen Seite? Welche Chancen sehen Sie?
Wir sind gut aufgestellt, weil wir international aufgestellt sind. Allein an unseren Schulen kommen Lehrer aus 19 Nationen zusammen. Ich glaube, wir können enorm viel voneinander lernen. Die Stiftung war immer innovativ, und ich hoffe, dass es so bleibt. Wichtig ist, dass wir uns am Menschen, am Kind, an der Familie orientieren und nicht am Geld. Es geht darum, mehr über Sinnhaftigkeit nachzudenken, besonders im Bereich der Jugendhilfe. Ich bin überzeugt, dass die Jugendhilfe noch viel Potenzial nach oben hat, weil es uns noch nicht ausreichend gelingt, die Angebote so zu gestalten, dass sie für Familien optimal sind.
Welche Möglichkeiten sehen Sie für die Jugendhilfe?
Ich denke, Familien müssen viel stärker eingebunden werden. Sie sollten mehr Wissen und Unterstützung erhalten. Warum belohnen wir Eltern zum Beispiel nicht, wenn sie gut mitarbeiten, indem wir ihnen eine Woche Urlaub mit der Familie ermöglichen?
Ein Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter mit fünf Kindern, vier davon im Kinderheim, eines noch zu Hause. Man weiß jetzt schon, dass auch das fünfte Kind ins Heim kommen wird. Warum geben wir dieser Mutter nicht ein Haus, setzen Fachkräfte und eine Putzfrau ein? So könnte sie jeden Tag Erziehung lernen, und wir würden dabei die Hälfte der Kosten sparen.
Was ist Ihr Wunsch für die nächsten 30 Jahre Stiftung?
Motivierte Mitarbeiter*innen, gute Laune, lustige Leute. Viele kreative Ideen und politisch ein gutes Standing.
Was würden Sie Ihren Mitarbeitern noch mit auf den Weg geben?
Reißt euch den Arsch auf. Es lohnt sich nämlich für die anderen.